Die Gletscher der Silvretta-Gruppe zwischen Tirol, Vorarlberg und dem Schweizer Kanton Graubünden sind zwar seit dem Höhepunkt der letzten Eiszeit auf dem Rückzug, sie konnten sich aber dann und wann auch wieder längerfristiger stabilisieren oder weiter vorstoßen. Das zeigt eine neue Analyse von Forschern im Fachblatt "Scientific Reports". Seit dem Ende der "Kleinen Eiszeit" um 1850 steht aber das vom Menschen verursachte Schrumpfen der Silvretta-Gletscher im Vordergrund.
Das Team um Sandra Braumann vom Institut für Angewandte Geologie der Universität für Bodenkultur (Boku) Wien wollte in Zusammenarbeit mit Kollegen von der Columbia University (USA) herausfinden, wie es Gletschern über längere Zeit hinweg in einem wärmer werdenden Klima ergeht. Seit dem letzten glazialen Maximum vor rund 22.000 Jahren wurde es wärmer. Das war allerdings keine kontinuierliche Entwicklung, denn es gab "Kälterückfälle". Diese lassen sich erfassen, indem man nach geologischen Überbleibseln von Gletscherablagerungen, sogenannten stabilen Eisrandlagen (Moränen) in der Landschaft sucht. So lässt sich rekonstruieren, bis wohin das Eis einst gereicht hat.
Ablagerungsalter kann bestimmt werden
Wird Gestein, das vom Gletscher an den Eisrand transportiert wurde, im Zuge des Gletscher-Rückzuges freigelegt, ist es hochenergetischer kosmischer Strahlung ausgesetzt, die bewirkt, dass sich in Quarzmineralien das Isotop Beryllium-10 bildet. Je länger das Gestein exponiert ist, desto mehr Beryllium-10 entwickelt sich darin.
Dessen Konzentration kann dann gemessen und so das Ablagerungsalter und einstige Ausdehnung der Moräne bestimmt werden. Da die Gesteine Silvretta-Gruppe viele Quarzminerale beherbergen, hat das Team um Braumann die dortige Situation unter die Lupe genommen, erklärte die Forscherin der APA.
Kältere Perioden rekonstruieren
Die Methode der "Beryllium-10 Expositionsdatierung" erlaubt es, kältere Perioden in den vergangenen rund 15.000 Jahre dort sehr genau zu rekonstruieren, so Braumann. Besonders interessant ist die Zeit ab rund 12.000 Jahren vor unserer Zeit, "als es wirklich rapide wärmer geworden ist". Unmittelbar davor bedeckten die Gletscher in einer längeren Kälteperiode - der Jüngeren Dryaszeit vor etwa 12.900 bis 11.700 Jahren - auch die Talböden des Gebiets. Die Gletscherzunge des Jamtalferners lag damals wohl in etwa auf der Höhe des auf rund 1.550 Metern Seehöhe gelegenen Ortes Galtür (Tirol).
Am Anfang der darauffolgenden Warmzeit, dem frühen Holozän, zogen sich die Gletscher innerhalb weniger Jahrhunderte rasch zurück, so Braumann. Vor rund 11.000 Jahren folgte dann aber eine Stabilisierung, die die Forscher auf das Abschmelzen der großen nordamerikanischen Eisschilde zu jener Zeit zurückführen. Das brachte nämlich mehr Süßwasser in den Nordatlantik, was die warme Meereszirkulation nach Europa abschwächte und in unseren Breiten trotz Gesamt-Erwärmung eine zeitweise Abkühlung brachte.
Rückschlüsse auf Klimawandel
Baumfunde in einem Moor im Bereich der Bielerhöhe beim Silvretta-Stausee aus der Zeit von vor 7.500 bis 7.000 Jahren auf rund 2.150 Metern Seehöhe, die in einer vorangegangenen Studie von Forschern um Kurt Nicolussi von der Universität Innsbruck analysiert wurden, lassen aber auch auf eine frühere sehr warme Phase schließen. Wie weit die Gletscher sich damals zurückgezogen haben, könne man mit der Beryllium-10-Methode aber nicht sagen.
Nochmals fast vergleichbar mit dem Zustand stärkerer Vereisung am Beginn des Holozäns war die Ausdehnung zuletzt in der "Kleinen Eiszeit" von cirka 1250 bis 1850 unserer Zeitrechnung. In diesen Ablagerungen fanden sich allerdings auch Hinweise, dass es rund um das fünfte Jahrhundert unserer Zeitrechnung eine ähnlich große Eisausdehnung gab. Das geht mit der damaligen Völkerwanderung einher, die womöglich durch kühlere Temperaturen ausgelöst wurde.
Blickt man auf frühere massive und rasche Temperaturanstiege, die u.a. durch Veränderungen der Sonneneinstrahlung natürlich verursacht wurden, erlaube das Rückschlüsse auf das Klimasystem im sich erwärmenden Zustand. Informationen zum Tempo und der Größenordnung der natürlichen Gletscher- und Klimaänderungen während des Übergangs von der letzten Eiszeit in die aktuelle Warmzeit bieten Vergleichswerte für unseren aktuellen starken und erstmals vom Menschen verursachten, rapiden Erwärmungstrend. "Allerdings starten wir jetzt aus keiner Eiszeit heraus", so Braumann. Insgesamt zeigt auch die neue Analyse, wie sensibel die Gletscher in den Alpen auf Klimaveränderungen reagieren und wie massiv sich die menschlichen Aktivitäten hier auswirken. (apa)